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Wenn die Welt anders aussieht: Das Leben mit Autismus

Geschrieben von Christine Harbig

Vielleicht denkst du beim Thema Autismus an den Film „Rain Man“. Klar, so wie im Film sind Autist:innen in Wirklichkeit nicht. Denn jedes autistische Kind ist einzigartig. Nicht umsonst sprechen Ärzt:innen mittlerweile vom Autismus-Spektrum, das eine ganze Bandbreite von Merkmalen in unterschiedlichen Ausprägungen abdeckt. Was aber bedeutet das für uns Eltern? Dazu haben wir mit Anke Schwiete gesprochen. Sie ist selbst Autistin, hat eine autistische Tochter und berät Eltern in ihrem Autismus-Coaching, was sie im Alltag mit ihren Kindern beachten sollten.

 „Autismus ist eine andere Art zu denken, wahrzunehmen und zu verarbeiten“, sagt Anke Schwiete. Viele sprechen auch von „neurodivergent“ -bei Autist:innen arbeitet das Gehirn einfach anders. So kann manches, was uns als Eltern selbstverständlich erscheint für unser Kind ein riesiges Problem sein. Oder umgekehrt. Vielleicht nimmt ein Kind auf dem Spielplatz eher intensiv die Textur des Sandes wahr, als sich für andere Kinder zu interessieren. Oder reagiert empfindlich auf laute Geräusche oder Licht. „Meine Tochter hat es oft gehasst, Jeans zu tragen. Die Nähte haben sie so sehr gestört, dass sie sich den ganzen Tag unwohl gefühlt hat,“ berichtet Anke. Für viele Kinder im Autismus-Spektrum können Sinneseindrücke überwältigend sein. Und zwar ihr Leben lang.

Für Anke ist klar: „Autismus ist nicht etwas, das wir 'wegtrainieren' können. Es geht darum, die Stärken der Kinder zu erkennen und ihnen zu helfen, die Welt auf ihre Weise zu navigieren.“ Sie selbst merkte schon früh, dass sie anders war. Ihre Diagnose hat sie aber erst als Erwachsene erhalten. Anders als ihre Tochter, die mit drei Jahren aufhörte zu sprechen und nicht mehr auf ihre Umwelt reagierte. Schnell erhielt sie die Diagnose „frühkindlicher Autismus“ und in diesem Rahmen wurde auch Anke getestet. „Im Nachhinein habe ich viele Kindheitserfahrungen viel besser verstanden“, so Anke. Was sie nicht mehr hören kann sind Sätze wie: „Naja, wir sind doch alle ein bisschen autistisch“. Denn das stimmt einfach nicht. Bei Autist:innen ist das Gehirn anders verdrahtet und sie sehen die Welt mit andere Augen. Wir Eltern können ihnen dabei helfen, im Alltag besser zurecht zu kommen. Indem wir ein verständnisvolles und sicheres Umfeld schaffen, geduldig sind und uns auf unser Kind einlassen. 

Balanceakt: Zwischen Routinen und Flexibilität

Veränderungen sind so eine Sache, vor allem wenn sie ohne Vorwarnung eintreten. Denn feste Routinen und Abläufe geben vielen autistischen Kindern Sicherheit. Sie helfen ihnen, sich in einer Welt zurecht zu finden, die sie oft als überwältigend erleben. Je strukturierter ihre Umgebung ist, desto eher wissen sie, was auf sie zukommt und finden sich zurecht. Einige Kinder entwickeln ihre eigenen Routinen. Akzeptiere sie, auch wenn sie dir selbst unverständlich erscheinen, denn sie haben für dein Kind eine wichtige Bedeutung.

Was aber können wir tun, wenn doch mal etwas Unvorhergesehenes passiert? Wenn der Bus auf einmal Verspätung hat? Oder die Bezugserzieherin krank ist? „Einmal haben wir den Bus verpasst, und meine Tochter war für den Rest des Tages komplett aus der Bahn geworfen“, erinnert sich Anke. Veränderungen bedeuten für viele Autist:innen puren Stress. Umso wichtiger ist es, sie darauf vorzubereiten, dass nicht immer alles nach Plan läuft. Und im Alltag immer wieder ein wenig Flexibilität einzuüben. Allerdings in kleinen Schritten.

„Der Trick ist, kleine Abweichungen in den Tagesablauf einzubauen, etwa beim Frühstück“, erklärt Anke. Wenn Eltern immer wieder erzählen, dass die Lieblings-Marmelade auch mal ausverkauft sein kann, bereiten sie ihr Kind damit schon darauf vor, dass irgendwann statt der geliebten Erdbeer-Marmelade auch mal eine Kirsch-Marmelade auf dem Tisch steht. Wenn sie dann noch dazu erklären: „Nun war deine Lieblingsmarmelade tatsächlich ausverkauft.“, hilft das, auch mal Alternativen zu akzeptieren. „Wichtig dabei ist, nicht frustriert oder wütend zu werden, wenn es nicht sofort klappt – sondern es einfach als eine Übung zu sehen“, betont Anke. Mit einem sanften Training können autistische Kinder so lernen, etwas flexibler zu sein, ohne dass sie ihre Sicherheit verlieren.

Worte auf der Goldwaage? Kommunikation mit autistischen Kindern

Missverständnisse kommen bei autistischen Kindern häufig vor. Oft nehmen sie alles wortwörtlich. „Manchmal hilft es, ganz offen nachzufragen: ‚Hast du das so gemeint, wie ich es verstehe?‘“, erklärt Anke. Geduld und aktives Zuhören sind in solchen Momenten der Schlüssel, um Frustrationen auf beiden Seiten zu vermeiden. Es lohnt sich, wenn Eltern genauer nachfragen, bevor sie etwas falsch verstehen.

„Auch wenn wir denken, dass wir wissen was unser Kind meint, können wir es komplett falsch verstehen“, so Anke. Eines Tages saß sie mit ihrer Tochter und ihrem Sohn am Esstisch – ihr Sohn hatte Spaghetti Bolognese gekocht. Es schmeckte hervorragend, doch ihre Tochter kommentierte: „Naja, dabei kann man auch nicht viel falsch machen.“ Ankes Sohn fühlte sich auf den Schlips getreten und war sauer. Doch als Anke nachfragte, was ihre Tochter genau mit diesem Satz meine, erklärte sie: „Spaghetti Bolognese mag einfach jeder.“ Sie wollte ihrem Bruder ein Kompliment machen, doch es kam falsch an.

Andersherum haben einige autistische Kinder Schwierigkeiten mit vagen oder mehrdeutigen Aussagen. Deshalb hilft es ihnen, in der Kommunikation möglichst konkret und präzise zu sein. Statt zu sagen „Räum dein Zimmer auf“, ist es besser klarzustellen, was genau getan werden soll: „Lege deine Spielsachen in die Kiste und mache das Bett.“ Solche Feinheiten können den Alltag mit autistischen Kindern erheblich erleichtern. Auch wenn das heißt, viel Geduld mitzubringen. „Manchmal dauert die Verarbeitung einfach länger, deshalb brauchen einige autistische Kinder mehr Zeit“, erklärt Anke.

Auch Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken fällt vielen nicht leicht. Umso wichtiger ist es, dass Eltern gerade jüngere Kinder genau beobachten und auf ihre Körpersprache achten. So sehen sie, was sie gerade benötigen. Oder ob es besser ist, einen Schritt zurückzutreten und dem Kind den Raum zu geben, den es gerade braucht, weil alles zu viel wird.

Schwierige Situationen meistern: Wenn es zu einem Meltdown kommt

„Meine Tochter und ich haben ähnliche Trigger“, berichtet Anke Schwiete. Vor allem Lärm und Hektik sind für sie schwer zu ertragen. Wenn alles zu viel wird, kann es zu einem so genannten Meltdown kommen. „Ein Meltdown ist keine Trotzreaktion – es ist eine völlige Überforderung des Nervensystems“ erklärt Anke Schwiete. Dann können Autist:innen ihre Gefühle nicht mehr regulieren und reagieren sehr emotional oder auch körperlich. Einige sogar mit einem Kampf- oder Fluchtreflex. Für Eltern ist es wichtig, diese Situationen zu verstehen und entsprechend zu reagieren.

Das Wichtigste ist: Ruhe bewahren. „Wenn es zu einem Meltdown kommt, ist es wichtig, das Kind nicht noch weiter unter Druck zu setzen. Oft hilft es, Reize zu minimieren und dem Kind Zeit für sich zu geben“, erklärt Anke. Denn wenn ein Kind bereits an seine Belastungsgrenze gekommen ist, kann es nichts mehr aufnehmen. Dann ist es besten, es an einen ruhigen, vertrauten Ort zu bringen, an dem es sich sicher fühlt und erst einmal Abstand zu halten. Aber dabei immer zu signalisieren: „Ich bin hier, wenn du mich brauchst und es ist in Ordnung, wie du dich fühlst.“

Manchmal dauert es eine Weile, bis das Kind sich wieder beruhigt. Bei einem Meltdown hilft nichts anderes als Geduld, das Kind braucht Zeit für die Selbstregulation. Deshalb hilft es nicht, einen Meltdown schnell beenden zu wollen. Wenn alles überstanden ist, können Eltern mit ihrem Kind über die Situation sprechen – wenn es dazu bereit ist. „Es geht darum, dem Kind zu helfen, zu verstehen, was passiert ist, ohne es dafür zu kritisieren,“ so Anke. Die wichtigste Botschaft dabei: Du bist nicht allein. Ich bin da, um dir zu helfen.

Eigene Kraftquellen finden: Selbstfürsorge für Eltern und Angehörige

Gerade wenn ein Kind viel Aufmerksamkeit einfordert, kann das für Eltern oder Angehörige körperlich und emotional sehr anstrengend sein. Die ständige Anspannung und das Gefühl, immer funktionieren zu müssen, zehren an den Kräften. Deshalb ist es besonders wichtig, sich selbst Momente der Auszeit zu gönnen. „Ich habe gelernt, dass ich nur stabil sein kann, wenn ich mich um mich selbst kümmere,“ sagt Anke. „Wenn ich kurz davor bin, nicht mehr wirklich reagieren zu können, dann gehe ich raus, vor die Tür, egal bei welchem Wetter.“

Hilfe anzunehmen und sich Unterstützung zu suchen ist keine Schande, sondern tut auch dem Kind gut. Denn wer selbst keine Kraft mehr hat, kann auch nicht für sein Kind da sein. Ein Pflegedienst, die Großeltern oder eine Haushaltshilfe können Raum zum Atmen verschaffen und Eltern helfen, neue Kräfte zu tanken. Gönn dir eine Auszeit und tausche dich mit anderen Eltern aus – zum Beispiel in einer unserer Mein-Herz-lacht-Elterngruppen. Sie wissen, wie du dich fühlst und verstehen dich. 

Der Übergang ins Erwachsenenalter: Schritt für Schritt

Ankes Tochter ist mittlerweile volljährig. Der Wechsel von der Schule ins Arbeitsleben ist für einen Menschen, der Routinen und Sicherheit schätzt, besonders nervenaufreibend. Um ihrer Tochter den Übergang zu erleichtern, hat Anke dafür gesorgt, dass sie schon während der Schulzeit verschiedene Praktika absolvierte und ausprobieren konnte, was ihr lag.

„Für autistische Kinder, die erwachsen werden, ist es wichtig, nicht zu viele Veränderungen auf einmal einzuführen“, erklärt Anke. Die Schule endet, damit oft auch Freizeitangebote und dann steht vielleicht auch das Thema Auszug an. Um zu viel Stress zu vermeiden, unterstützt Anke ihre Tochter noch bei Bankangelegenheiten und Arztbesuchen. Nach und nach soll sie selbstständiger werden und die nächsten Schritte alleine gehen.

5 Alltags-Tipps von Anke Schwiete

  1. Routinen schaffen, aber Flexibilität üben
  2. Klare und präzise Kommunikation
  3. Ruhe bewahren bei Meltdowns
  4. Gefühle und Bedürfnisse deines Kindes verstehen lernen
  5. Selbstfürsorge nicht vergessen

Wenn du noch mehr über den Alltag mit einem autistischen Kind erfahren möchtest, dann hör dir unsere Podcast-Folge mit Anke Schwiete an.

Zur Podcast-Folge

 

Links zu weiteren Informationen zum Thema Autismus:

Website von Anke Schwiete:

Bundesverband Autismus Deutschland e.V.

Aspies e.V. - Selbsthilfeverein für Menschen mit Asperger-Syndrom und deren Angehörige

 

Buchtipps:

"Autismus: Wenn ein Kind anders ist" von Andrea Brackmann: Dieses Buch bietet eine einfühlsame und verständliche Einführung in das Thema Autismus für Eltern und Angehörige.

"Versteh mich bitte!" von Cordula Neuhaus: In diesem Buch gibt die Autorin Einblicke in die Welt von Kindern mit Autismus und bietet praktische Tipps für den Umgang und die Kommunikation.

Buchreihe "Schattenspringer" von Daniela Schreiter: Grafic Novels von einer autistischen Autorin geschrieben, die sehr gute Einblicke in das Leben mit Autismus bietet und auch schon für junge Kinder geeignet ist

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