Funktioniert bedürfnisorientierte Erziehung bei behinderten Kindern?
Bedürfnisorientierte Erziehung – das klingt erstmal gut, oder? Aber was bedeutet das genau? Und funktioniert dieser Erziehungsstil wirklich bei allen Kindern? Die Antworten darauf hat uns Nora Imlau gegeben, Expertin für bedürfnisorientierte Elternschaft, Journalistin und Autorin von vier Kindern. Als Journalistin hat sie sich auf die Bindungsforschung, Erziehung und kindliche Entwicklung spezialisiert.
Was bedeutet „bedürfnisorientiert“ überhaupt?
Manchmal möchte dein Kind einfach nicht zur Therapie gehen. Was solltest du in so einer Situation tun? Dein Kind überreden, weil du weißt, wie wichtig die Therapie ist? Oder die Sitzung einfach sausen lassen? In dieser Situation hilft es zu prüfen, was hinter der Verweigerung steckt. Vielleicht ist dein Kind müde und überfordert vom Tag und könnte sich ohnehin nicht auf die Übungen konzentrieren. Dann kann es sinnvoller sein, eine Sitzung ausfallen zu lassen und anzuerkennen, dass dein Kind heute etwas anderes braucht. Und beim nächsten Termin wieder mit Freude dabei ist.
Heißt bedürfnisorientierte Erziehung also, dass dein Kind immer bekommt, was es will? Keinesfalls! Es geht nicht darum, immer nur zu allem „Ja!“ zu sagen, sondern die Bedürfnisse aller Familienmitglieder unter einen Hut zu bekommen. Im Gegensatz zur autoritären Erziehung, bei der Kinder vor allem brav, ruhig und gehorsam sein sollten, geht es bei der bedürfnisorientierten Erziehung um eine gute Bindung zu deinem Kind. Gewalt oder Strafen sind tabu. Das bedeutet aber nicht, ins andere Extrem zu verfallen und deinem Kind jeden Wunsch von den Augen abzulesen und sofort zu erfüllen. „Grenzen geben Kindern Halt und Orientierung. Wenn Kinder gar keine Grenzen haben, tut ihnen das auch nicht gut“, erklärt Nora Imlau. Denn auch der Umgang mit Frustration oder zu lernen, nicht immer alles sofort zu bekommen, gehören zum Aufwachsen dazu.
„Bindungsorientierte Elternschaft wird oft missverstanden als Regentschaft des Kindes. Es geht aber nicht darum, Autoritäten umzudrehen oder die Kinder einfach nur laufen zu lassen. Kinder brauchen Eltern, die Verantwortung tragen für ihre Sicherheit, ihre Gesundheit, ihren Schutz und für ihre Entwicklung.“ Nora Imlau
Allerdings kennst du bestimmt Situationen, in denen du nicht anders kannst, als über den Willen deines Kindes hinweg zu entscheiden – etwa bei wichtigen medizinischen Eingriffen. Ist das dann noch bedürfnisorientierte Erziehung? „Manchmal ist auch schützende Gewalt für das Wohl unserer Kinder notwendig“, erklärt Nora Imlau. Was dann hilft sei Zugewandtheit und Klarheit – ohne schlechtes Gewissen. „Auch das gehört zu unserer Verantwortung als Eltern dazu.“ Das wichtige dabei ist, dein Kind nicht allein zu lassen, sondern ihm in schwierigen Situationen zur Seite zu stehen. Und auch Gefühle wie Angst oder Frust zuzulassen. Du kannst zum Beispiel sagen: „Ich weiß, dass du das nicht gerne machst, aber ich bin für dich da und halte auch deinen Frust aus.“
Versuche, deinem Kind immer mit Respekt zu begegnen. „Wenn ein Kind sich nicht anfassen lassen möchte und jede Berührung abwehrt, dann ist es ein Zeichen des Respekts, auch dieses Bedürfnis zu akzeptieren“, so Nora Imlau. Andersherum hast du als Elternteil bei starken körperlichen Wutanfällen auch das Recht, dich zu schützen, etwa indem du den Raum verlässt. „Ich finde es nicht richtig, Kinder als Strafe in ihr Zimmer einzusperren, aber manchmal ist es notwendig, dass ich eine Tür zumache, um mich oder Geschwisterkinder zu schützen.“
Genauso ist es nötig, ein dreijähriges Kind gegen seinen Willen in einem Autositz anzuschnallen, weil sonst seine Gesundheit gefährdet wäre. Dann ist es legitim, mit innerer Klarheit so viel Kraft wie nötig aber so wenig wie möglich zu nutzen. In diesem Fall übernehmen wir als Eltern die Verantwortung für die Sicherheit unseres Kindes. „Wenn ich das für mich innerlich klar habe, dann habe ich nicht das Gefühl, gegen meine eigenen Werte zu verstoßen.“ Und mit dieser Einstellung leidet auch die Bindung zum Kind nicht. „Für Kinder ist es oft deutlich schwieriger, wenn sie in einer unangenehmen Situation das Gefühl haben, Mama und Papa lassen mich damit allein.“ Was wir tun können ist, mit unserem Kind zu singen, zu atmen oder ein Buch anzuschauen. Oder das tun, von dem wir wissen, dass es unser Kind beruhigt.
„Jede Handlung kann in einem Rahmen okay sein und in einem anderen nicht. Es ist super ein Kind zu umarmen, das umarmt werden will. Es ist nicht okay, ein Kind zu umarmen, das nicht umarmt werden will.“ Nora Imlau
Gerade für Kinder mit traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit ist es besonders wichtig, ihre emotionalen Reaktionen wertfrei anzunehmen. Statt direkt mit einer Lösung zu kommen, erst einmal Trost zu spenden und dem Kind zu vermitteln „Ich verstehe dich.“ Wenn wir die Emotionen von Kindern ernst nehmen und anerkennen, statt sie wegzufegen, zeigen wir ihnen, dass sie nicht allein sind und auch Gefühle wie Angst oder Wut zum Alltag dazugehören. Die wichtigste Botschaft lautet dann: Wir stehen das zusammen durch und ich bin an deiner Seite. Ähnliches gilt für gefühlsstarke Kinder, die zu Wutausbrüchen neigen. Viele Kinder ertragen es nicht, wenn in dieser Situation jemand auf sie einredet oder sie umarmen möchte. Auch das sollten Eltern respektieren.
Das bedeutet nicht, dass Eltern all ihre Gefühle immer vor dem Kind zeigen sollten, aber auch nicht, sie komplett zu verleugnen – wie so oft ist der goldene Mittelweg gefragt. „Wir sollten ehrlich gegenüber unseren Kindern sein, was unsere eigenen Gefühle angeht, aber sie nicht übermäßig mit unseren Ängsten belasten“, rät Nora Imlau. Sondern unseren Kindern zeigen, dass wir uns auch um uns selbst kümmern und mit schwierigen Emotionen umgehen. Ein Satz könnte lauten: „Ja, ich habe Angst um dich und deswegen gehe ich jetzt nachher noch mal eine Runde allein spazieren, weil mich das beruhigt.“ Oder mit einer anderen Person über die eigenen Gefühle zu sprechen. So erlebt das Kind, dass Eltern selbst die Verantwortung für ihr Wohlergehen übernehmen – und das schafft Sicherheit.
Herausforderungen bei behinderten Kindern
Besonders herausfordernd wird es, wenn dein Kind nicht spricht oder seine Bedürfnisse nur schwer ausdrücken kann. Dann ist es umso wichtiger, auf seine Körpersprache, Mimik und Gestik zu achten. Denn auch damit zeigt dir dein Kind, was es will oder nicht will. Mit der Zeit kannst du dein Kind immer besser einschätzen.
„Kinder sehnen sich nach Orientierung und einer gewissen Führung, aber diese Führung soll eben nicht gewaltvoll passieren. Als Mutter oder Vater weiß ich, wo ich hinwill und kann das auch vertreten, aber mein Kind darf auch eine andere Meinung äußern.“ Nora Imlau
Genau wie alle Kinder entwickeln sich auch behinderte Kinder und ihre Bedürfnisse verändern sich. Es kann zum Beispiel für einen Teenager sehr frustrierend sein, wenn er sich nicht selbst waschen oder anziehen kann. Körperlich eingeschränkte oder behinderte Kinder haben oft nicht viele Möglichkeiten, ihr Autonomiebedürfnis auszuleben und fühlen sich in Hilflosigkeit gefangen. „Deshalb kann es sein, dass sie in bestimmten Situationen rebellieren. Sie wollen uns damit nicht ärgern, sondern sind einfach nur frustriert“, erklärt Nora Imlau. Versuche, nicht zu sehr in Routinen zu verfallen, sondern schau, ob du deinem Kind nicht etwas mehr Autonomie ermöglichen kannst. Etwa indem es den Waschlappen aussuchen darf oder mit einem Hilfsmittel lernt, selbst zu essen.
„Diese Idee des Aufopferns für ein Kind mit Einschränkungen ist sehr nachvollziehbar. Vielleicht möchte ich damit etwas wettmachen, indem ich besonders viel für dieses Kind tue. Gleichzeitig liegt darin eine große Gefahr, nämlich diejenige völlig auszubrennen.“ Nora Imlau
Warum wir uns selbst nicht vergessen dürfen
Besonders schwierig ist es, die Balance zwischen den Bedürfnissen aller Familienmitglieder zu finden. Denn auch Eltern haben Bedürfnisse. „Es gibt Tage, an denen meine eigenen Bedürfnisse völlig untergehen. Besonders dann, wenn mein Kind eine schwierige Phase durchmacht. Doch gerade dann habe ich gelernt, dass ich mich um mich selbst kümmern muss, um langfristig für mein Kind da zu sein. Eine Stunde für mich, um zu lesen oder spazieren zu gehen, macht oft einen großen Unterschied“, sagt Nora Imlau.
Im Extremfall kann das Gefühl, im täglichen Hamsterrad gefangen zu sein, sogar bis zum Pflege-Burnout führen. „Wenn Mama oder Papa sich selbst vergessen, belastet das auch das Kind“, sagt Nora Imlau. „Und das tut am Ende auch dem Kind nicht gut. Kinder spüren sehr genau, wenn ihre Eltern überfordert sind.“ Umso wichtiger ist es, dir frühzeitig Hilfe zu holen – sei es durch einen Pflegedienst oder im familiären Umfeld.
„Selbstfürsorge ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, um neue Kraft zu tanken. Auch wenn es vielen Eltern schwerfällt, ihr Kind an einen Pflegedienst abzugeben, kann das für das ganze Familiensystem eine enorme Entlastung bringen“, so Nora Imlau. Es ist deshalb wichtig, dass du Pausen machst und dir Entlastung holst, um gut für dein Kind sorgen zu können.
„Es gibt keine Krankheit und keine Behinderung eines Kindes, die es rechtfertigen würde, dass wir als Mütter komplett ausbrennen und keinerlei eigenen Bedürfnisse mehr haben. Sondern wir müssen uns gut um uns selbst kümmern, wir müssen Entlastung bekommen und auch dafür sorgen, dass nicht die gesamte Verantwortung für das Wohlergehen unseres Kindes allein an uns hängt. Das kann kein Mensch leisten.“ Nora Imlau
Es hat auch nicht unbedingt etwas zu bedeuten, wenn jüngere Kinder, die Eltern mit dem Namen einer Pflegeperson oder der Großmutter ansprechen. Das hat eher mit der Sprachentwicklung als mit einer fehlenden Bindung zu tun. Jüngere Kinder nutzen oft Sammelbegriffe und bezeichnen alle Menschen, die ihnen Geborgenheit und Sicherheit geben mit diesem Begriff. „Es ist tatsächlich so, dass ein sehr geborgenes Kind auch mal die eigene Mama mit dem Namen einer Pflegekraft ansprechen kann, weil es sich sicher und gut versorgt fühlt. Und der Name in diesem Moment nicht so wichtig ist“, erklärt Nora Imlau. „Gleichzeitig ist es trotzdem so, dass die Eltern-Kind-Bindung noch mal eine ganz eigene Tiefe und Qualität hat.“ Vor allem in belastenden Momenten erleben Eltern häufig, dass nur sie ihren Kindern wirklich Trost spenden können. Das spricht für eine starke Bindung.
„Bindung ist keine Glaskugel, die ganz fragil ist und kaputt geht, wenn sie einmal runterfällt. Sondern Bindung ist wie so ein richtig dickes Seemannstau aus unzähligen Fasern. Und wenn da mal eine Faser reißt, weil aus irgendeinem Grund eine Situation nicht optimal ist, macht das der Stabilität des Taus überhaupt nichts aus. Außerdem lassen sich Taue reparieren mit neuen Fasern.“ Nora Imlau
Perfektionismus ade
„Unsere Kinder wollen mit uns eine gute Beziehung haben, genau wie wir mit ihnen“, sagt Nora Imlau. Aber auch Eltern können Fehler machen. "Selbst ich als Mutter, die sich seit über 15 Jahren intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt, fange manchmal an, meinen Kindern mit etwas zu drohen und sage Sätze, die ich lieber nicht gesagt hätte. Weil ich genervt, ungeduldig oder erschöpft bin.“ Doch das ist zutiefst menschlich.
„Auch ich bin manchmal genervt, ungeduldig, wertend. Das ist zutiefst menschlich und ich glaube nicht, dass sich davon irgendwer freisprechen kann.“ Nora Imlau
Deshalb sei nicht zu streng mit dir und lerne, dir selbst zu verzeihen. Eine gute Beziehung übersteht auch mal einen Konflikt. Vor allem, wenn du hinterher erklärst, warum du so reagiert hast. Wichtig ist nur, dass du bereit bist, dich selbst zu reflektieren und es das nächste Mal besser zu machen. So lernen deine Kinder auch, dass sie selbst nicht immer perfekt sein müssen. Das ist die Basis einer liebevollen Beziehung, in der wir gemeinsam als Familie unseren Weg finden.
Tipps für den Alltag
• Gefühle zulassen: Alle Gefühle deines Kindes sind wichtig und richtig, egal ob sie für dich schwer oder leicht auszuhalten sind.
• Bedürfnisse erkennen: Versuche, das Bedürfnis hinter dem Verhalten deines Kindes zu erkennen, etwa Müdigkeit, Hunger oder Überforderung
• Grenzen setzen: Scheu dich nicht davor, auch mal „nein“ zu sagen. Vor allem wenn du merkst, dass du deine eigenen Bedürfnisse vernachlässigst. Es geht um eine gesunde Balance der Bedürfnisse aller Familienmitglieder.
• Kompromisse finden: Auch Konflikte gehören dazu. Suche nach Kompromissen und entscheide im Gespräch, was gerade am wichtigsten ist.
Hier kannst du noch mehr über Nora Imlau und ihre Bücher erfahren:
- "So viel Freude, so viel Wut"
- "Mein kompetentes Baby"
- "Das Geheimnis zufriedener Babys"
Podcast-Folge mit Nora Imlau:
Funktioniert bedürfnisorientierte Erziehung bei beeinträchtigten Kindern?
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Energie-Impuls
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