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Kommen Geschwisterkinder zu kurz?

Kommen Geschwisterkinder zu kurz?

Keine Frage, beeinträchtigte Kinder benötigen eine ganz andere Aufmerksamkeit und stehen häufig im Fokus der Eltern. Für die Geschwister ist das oft nicht einfach. Sie müssen Vieles mittragen und haben weniger Zeit für eigene Hobbys. Umso wichtiger ist es, sich als Familie klar zu werden, welche Bedürfnisse jedes einzelne Familienmitglied hat und was es braucht, um sie zu erfüllen.

„Am liebsten wäre ich auch behindert!“

Unser Alltag ist kompliziert. Alles dreht sich um unseren behinderten Sohn und die beiden jüngeren Geschwister müssen einfach mitlaufen, Rücksicht nehmen und zurückstecken. Unser Tag ist genau geplant, sonst würde es nicht funktionieren All die Therapien und Arztbesuche nehmen viel Zeit in Anspruch. Da bleiben Spontanität und Leichtigkeit oft auf der Strecke.

Rückzug und Schweigen
Wenn ich meine beiden Mädchen ansah, die allein mit einem Buch in der Ecke saßen, fragte ich mich, ob ich ihnen gerecht wurde. Als sie jünger waren, sagten sie manchmal Sätze wie „Ich wäre auch gerne behindert. Dann würde auch mal jemand auf mich schauen.“ Ich hatte den Eindruck, dass sich die beiden immer mehr zurückzogen und verschlossener wurden. Oder überempfindlich reagierten, wenn ich etwas sagte. Sie beschwerten sich zwar nicht, aber ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Freunde brachten sie fast nie mit nach Hause. Und ich wusste, dass wir etwas verändern mussten.

Vier-Augen-Gespräche taten uns gut
Was ich gelernt habe ist, dass wir uns nun bewusst Zeit für Gespräche unter vier Augen nehmen. Wir haben angefangen, offen über die Behinderung unseres Ältesten zu sprechen. Auf einmal kamen Ängste und falsche Vorstellungen zum Vorschein. Etwa die Frage, ob meine Töchter später einmal ein behindertes Kind haben könnten. Wir hörten viel zu und sprachen offen über sie und ihre Wünsche. Schon allein die Zeit, die wir ihnen schenkten, während die Oma auf unseren Ältesten aufpasste, hat viel verändert.

Jede Familie hat ihr Päckchen zu tragen
Wir begannen diese Gespräche als feste Routine in unseren Alltag einzubauen. Mir hat es auch sehr geholfen, mir bewusst zu machen, dass in anderen Familien auch nicht alles rosig läuft. Bei manchen Klassenkameraden streiten die Eltern viel und nun steht eine Scheidung im Raum. Ein Mädchen hat eine Fluchtgeschichte hinter sich und bei anderen kämpft der Vater mit einer Depression. Viele haben ihr eigenes Päckchen zu tragen – wir eben das, eine besondere Familie zu sein. Noch gelassener wurde ich, als ich eines Tages eine Radiosendung über „normale“ Geschwister hörte, die unabhängig voneinander interviewt wurden. Jeder behauptete über den anderen, er sei das Lieblingskind gewesen. Es ist wohl alles eine Frage der Perspektive.

Bestandaufnahme am Strand
Um unsere zu verändern, wollten wir erst einmal feststellen, wo wir überhaupt standen. Wir versetzten uns in eine Strand-Szenerie hinein. Der Papa bezeichnete sich als „Mann über Bord“, eine Tochter als „beim Beachvolleyball“, die andere „am Strand“ und ich als Mutter „im Sturm“. Wir hatten sehr unterschiedliche Gefühlslagen. Dann schrieb jeder von uns drei Dinge auf, die gut liefen und drei, die wir verbessern konnten.

Unsere Wunschtage haben viel verändert
Und schließlich fertigten wir unsere Wunschliste an. Die Übung hieß: Was würdest du dir wünschen, wenn du einen Tag ganz allein mit Mama oder Papa verbringen dürftest? Wir trugen im Kalender Wunschtage für jedes Familienmitglied ein und verteilten sie gerecht übers ganze Jahr. Mal kam die Oma, um auf den Großen aufzupassen, mal eine Babysitterin, mal teilten wir uns auf. Seitdem geht ein Elternteil regelmäßig mit nur einem Kind ins Schwimmbad, zum Reiten oder auf den Bauernhof. Dabei haben wir viel Zeit zum Reden. Je mehr wir miteinander sprachen, desto mehr konnten wir zum Positiven verändern. Bald fühlten wir alle uns freier, ernst genommen und insgesamt wohler.

Die Zeit allein ist nicht entscheidend
Es ist nicht allein die Zeit, die man für das eine oder andere Kind aufbringt, die ausschlaggebend dafür ist, warum manche Geschwisterkinder psychisch gestärkt und andere belastet aus einer Konstellation mit einem behinderten Kind hervorgehen. Vielmehr ist es die Akzeptanz und der Umgang mit der Behinderung. Sie spielen die Schlüsselrolle. Ein offener Dialog ist eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung aller Beteiligten. Genauso, wie Emotionen wie Wut auch gegenüber dem behinderten Geschwisterkind zuzulassen und auch äußern zu dürfen oder einen Rückzugsort zu haben.

Kindern geht es gut, wenn ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind
Genauso haben es die Züricher Kinderärzte Remo H. Largo und Oskar G. Jenni in ihrem Fit-Konzept beschrieben. Demnach möchte jeder Mensch in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben. Dabei unterscheiden die Ärzte sechs Grundbedürfnisse: Körperliche Integrität, Geborgenheit, soziale Anerkennung, Selbstentfaltung, Leistung und existenzielle Sicherheit. Mithilfe dieser Grundbedürfnisse können Eltern einschätzen, ob ihren Kindern etwas fehlt oder ein Bedürfnis zu kurz kommt. Wie stark verschiedene Bedürfnisse ausgeprägt sind, ist individuell verschieden und lässt sich nur im gemeinsamen Gespräch erkunden. Ein Kind, das das Gefühl hat, seine Bedürfnisse befriedigen zu können, fühlt sich wohl, ist interessiert an der Umwelt und entwickelt ein gesundes Selbstwertgefühl – auch wenn die Eltern mehr Zeit mit dem beeinträchtigten Kind verbringen.

Tipps in Kürze

  • Plane Zeit für gemeinsame Gespräche mit den Kindern im Kalender ein
  • Führe Wunschtage für jedes Familienmitglied ein
  • Schenke auch Geschwisterkindern Zeit mit einem Elternteil allein
  • Frage Geschwisterkinder regelmäßig nach ihren Sorgen, Ängsten und Wünschen
  • Achte darauf, welche Bedürfnisse den Geschwisterkindern wichtig sind und wie du sie trotz enger Zeitfenster erfüllen kannst (z.B. Kuscheln mittags nach dem Essen statt abends)

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