Einbinden und Abgrenzen von Herkunftsfamilien oder Verwandtschaft
Unsere Eltern, Großeltern, Geschwister und sogar entfernte Verwandte prägen uns viel mehr, als uns bewusst ist. Sie geben uns Muster, Werte und Leitsätze mit auf den Weg, die unser Verhalten beeinflussen. Manchmal können sie dafür sorgen, dass wir uns selbst im Weg stehen. Wenn wir das Gefühl haben, im Status Quo zu verharren, nicht glücklich zu sein, wichtige Entscheidungen aufzuschieben oder geheime Wünsche zu haben, die aber keinesfalls etwas für uns sein können, dann lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Die Spurensuche in der Kindheit kann offenbaren, wo wir ansetzen können, um etwas zu verändern.
Das Erbe unserer Eltern – wie unsere Vorfahren uns beeinflussen
Unser Familienalltag erinnerte mich immer mehr an meine Kindheit. Wir stritten immerzu und irgendwann knallte eine Tür und am nächsten Tag folgten verletzende Bemerkungen. Schon als Kind habe ich es gehasst, zwischen den Stühlen zu sitzen. Meine Mutter wurde immer ganz still und hat sich klein gemacht und mein Vater hatte stets das letzte Wort. Wir Kinder hatten sowieso still zu sein.
Das wächst sich NICHT raus
So still werde ich noch heute, wenn mir jemand etwas an den Kopf wirft. „Er wird da schon rauswachsen“, sagt ein Onkel mit einem milden Lächeln. Doch ich weiß es besser. Nein, das wird er nicht. Mein Sohn ist Autist und wird es auch immer bleiben. Ich kann all die ungebetenen Ratschläge nicht mehr hören, mag das herablassende Kopfschütteln nicht mehr sehen. Ich habe es satt, mich verurteilen zu lassen, wenn ich ihn eine Leine nehme, damit er nicht einfach auf die Straße rennt. Aber jedes Mal, wenn ich in eine solche Situation komme, fühle ich mich wie gelähmt. Und dann läuft alles genau wie immer.
Meine besserwissende Schwiegermutter
Obwohl ich wusste, was mich geprägt hat, konnte ich diese Bürde nicht abschütteln. Ich ließ mich stets kleinmachen und verstummte. Auch gegenüber meiner Schwiegermutter, die immer alles besser wusste. Obwohl sie noch Jahre nach der Diagnose nicht verstanden hatte, was Autismus wirklich bedeutet.
Die Bürde der Vergangenheit
Es änderte sich erst etwas, als ich begann, all die Beziehungen und Strukturen meiner Familie und der meines Mannes sichtbar zu machen. Mithilfe eines Genogramms – ein Familienstammbaum über drei Generationen. Auf einmal schaute ich wie eine Fremde von oben auf alles herab. Und begann zu verstehen, warum meine Mutter als Scheidungskind all das stillschweigend ertragen hatte. Und warum mein Vater, der unter seinem autoritären Vater gelitten hatte, bestimmen wollte, wo es langging. Sie hatten es nicht anders gelernt.
Nur wer zurückblickt, kann einen neuen Weg einschlagen
„Reflektion ist der erste Schritt der Veränderung“ – diesen Satz habe ich einmal gelesen. Er ist so wahr. Je mehr ich über meine Familie nachdachte, umso klarer wurde mir, dass ich nicht in derselben Zeit aufgewachsen war und etwas verändern konnte. Ich sprach mit meinem Mann und wir beschlossen gemeinsam, seine Mutter seltener einzuladen. Wir hatten genug um die Ohren, als dauernd Rücksicht auf sie zu nehmen.
Wie ich mich veränderte
Genauso versuchte ich, schmerzende Kommentare als das zu betrachten, was sie waren – Aussagen von ahnungslosen Menschen. Fast taten sie mir leid. Ich legte mir Antworten zurecht, die nicht verletzend waren, sondern mein Gegenüber zum Nachdenken brachte. Und wenn ich merkte, dass sich mal wieder viel Frust in mir aufgestaut hatte, sagte ich zu meinem Mann: „Es liegt nicht an dir, aber ich muss jetzt einfach mal Dampf ablassen.“ Ich erzählte ihm von der Beziehung meiner Mutter zu meinem Vater und auch er hatte auf einmal Geschichten parat. Wir nahmen uns Zeit, zu erkunden, was unsere Familien gemeinsam hatten, was sie unterschied und was wir anders machen wollten. Tatsächlich waren wir uns in fast allen Punkten einig. Und weil ich meinen Mann so sehr in diese Arbeit einbezogen hatte, fiel es mir viel leichter, nicht in alte Muster zu verfallen.
Unser Codewort gegen alte Rollenmuster
Wir gewöhnten uns sogar an, ein Codewort zu sagen, wenn wir merkten, dass der andere in eine Kindheitsrolle verfiel. „Ahnengewäsch“ sagten wir dann lachend und der andere musste mitlachen. So schafften wir es gemeinsam, uns eigene Werte aufzubauen und nicht alles einfach so zu machen, wie wir es gewohnt waren, sondern uns immer wieder zu hinterfragen. Am Ende haben wir glaube ich uns beide besser kennengelernt – und unsere Verbindung ist tiefer als vorher.
Unser Erbe aus der Kindheit
Familien vermitteln ihren Kindern unbewusst viele Modellvorstellungen über sich, die Umwelt und das Zusammenleben. Daraus entwickeln sich Erwartungen, Bewertungskriterien und Traditionen. Sie bestimmen, wie wir uns verhalten, andere beurteilen oder wie wir auf bestimmte Sätze reagieren. Familiäre Traditionen können Vertrautheit und Stabilität verleihen. Sie können aber auch belastend werden, wenn eine ungewohnte Situation neue Anforderungen benötigt oder zwei Partner sehr unterschiedlich auf Ungewohntes reagieren.
Wege zwischen familiärer Hilfe und Abgrenzung finden
Was für die eine Stress ist, kann für den anderen ganz normal sein. Es hängt von unserer Prägung ab. Was habe ich in meiner Herkunftsfamilie gesehen? Wie wurde mit Stress umgegangen, wie mit Belastungen? Wann ist etwas richtig, wann falsch? Herkunftsfamilien gehen sehr unterschiedlich mit Krankheit, Behinderung oder Belastungen um. Manche involvieren sich über den Maßen, andere machen sich eher rar. Umso wichtiger ist es für Eltern, sich abzugrenzen, denn ihre eigene Familie hat immer Vorrang! Sie müssen gemeinsam für eine gute Zukunft sorgen ohne dauernd Rücksicht auf die eigenen Eltern zu nehmen. Dabei hilft ein offenes Gespräch über die Sorgen und Wünsche der Kernfamilie.
Prägungen verstehen mit dem Genogramm
Dabei kann ein Genogramm (informativer Stammbaum) helfen. Er zeigt Prägungen bildlich auf. Verstehen, woher bestimmte Bewertungen kommen, hilft uns, sie zu verändern. Oder erlebte Kommunikationsmuster zu durchbrechen. Wenn Kinder nie erlebt haben, dass sich ihre Eltern nach einem Streit versöhnen oder auf die Argumente des anderen eingehen, sondern jede Auseinandersetzung verbittert geführt wurde und mit persönlichen Beleidigungen endete, ist es schwer, daraus auszubrechen.
Demokratischer oder autoritärer Erziehungsstil?
Ähnliches gilt, wenn Kinder erlebt haben, dass Eltern nicht viel mit ihren Kindern unternehmen, sondern sich nur vom Fernseher berieseln lassen. Haben die Eltern bei den Hausaufgaben geholfen? Oder die Hobbys der Kinder schon früh gefördert? Nach welchen Werten agierten die Familienmitglieder? Gab es ein demokratisches Miteinander oder einen autoritären Erziehungsstil. Genauso kann die Einstellung zu Erfolg oder Einstehen für die eigene Meinung prägend sein.
Glaubenssätze und Selbstsabotage
Die Macht der Gewohnheit sorgt dafür, dass wir unsere Verhaltensweisen im Alltag nicht hinterfragen. Auch wenn Glaubenssätze wie „Erst kommen die anderen, dann wieder die anderen und irgendwann am Schluss komme ich“, nichts anderes sind als Selbstsabotage. Erst wenn wir uns solche Gedanken und Verhaltensweisen bewusst machen, können wir Blockaden durchbrechen und neue Lösungen finden. Das ist ein wichtiger Schritt, um Selbstbewusstsein aufzubauen, konfliktfähiger zu werden oder ein Burnout abzuwenden. Denn Belastungen, Stress oder Ängste sind nie objektiv, sondern unterliegen immer unseren Bewertungen – und die können wir verändern.
Vom Stochern im Misthaufen zur Schatzsuche
Manchmal kann sich die Suche in der Vergangenheit anfühlen, als würde man in einem Misthaufen herumstochern. Doch es kann genauso zu einer spannenden Schatzsuche nach versteckten Potenzialen werden, wenn wir den richtigen Blickwinkel einnehmen. Unsere Vergangenheit können wir nicht verändern, aber wir können aus ihr lernen. Indem wir gute Gewohnheiten beibehalten und schlechte ablegen. Natürlich nicht von heute auf morgen, sondern Schritt für Schritt, indem wir uns jeden Tag mindestens fünf Minuten Zeit für die Selbstreflektion nehmen. So können wir entscheiden, wie wir unsere Lebensgeschichte weiterschreiben wollen.
Tipps in Kürze: Wie sich Blockaden lösen lassen
- Versuche aus der Vogelperspektive auf deine Situation zu schauen
- Erstelle einen Familienstammbaum (Genogramm) über 3 Generationen
- Trage auch Geschwister und andere Bezugspersonen oder Ex-Partner ein
- Ergänze Notizen zur Art der Beziehungen, Lebenseckdaten (z.B. Flucht aus Preußen) und andere Informationen.