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Anders, aber nicht allein

Warum Sigrid Gruppenleiterin bei Mein Herz lacht geworden ist

Schon im Kindergarten fing es an. Das kann ich rückblickend sagen. Erst einmal ganz harmlos mit einem Augenzwinkern. Später kam ein Kopfnicken hinzu. Damals hieß es, viele Kinder hätten solche Tics in bestimmten Entwicklungsphasen. Aber bei unserem Sohn hörten sie nicht mehr auf. Mit elf Jahren haben wir dann die Diagnose bekommen: Tourette-Syndrom. In der Grundschule lief noch alles gut. Zum Glück kam kein lautes Ausrufen von Schimpfwörtern hinzu, wie wir schon befürchtet hatten. Tatsächlich betrifft dieses bekannte Phänomen nur einen kleinen Teil der Menschen mit Tourette-Syndrom. Im Gegenteil, andere Kinder fanden in der Grundschule die ungewohnten Bewegungen unseres Sohnes sehr spannend und fragten: „Wie machst du das mit deinen Augen?“ Aber als er ans Gymnasium kam, fing es an mit dem Mobbing.
Eine Förderschule wäre für uns nie in Frage gekommen. Es sprach auch intellektuell nichts gegen ein Gymnasium. Aber bald zog sich unser Sohn immer mehr zurück und irgendwann wollte er gar nicht mehr in die Schule gehen. Weil wir in Deutschland eine Schulpflicht haben, brachte das große Probleme mit sich. Irgendwann stand immer nur die eine Frage im Raum: Wie bekommen wir unser Kind heute zur Schule? Alles dreht sich nur noch um dieses Thema.

Bald waren wir sehr isoliert. Man kann ein Kind auch nicht dazu zwingen, Sozialkontakte aufzubauen. Und reden konnten wir mit niemandem, nur untereinander. Außenstehende haben überhaupt nicht verstanden, wie es uns ging. Erst im Nachhinein habe ich gemerkt, wie wichtig es für mich gewesen wäre, andere betroffene Familien kennenzulernen. Einfach um zu sehen, wie sie mit ihrem Alltag zurechtkommen oder mit bestimmten Situationen umgehen. Doch damals kannten wir nur eine Gruppe für Tourette-Angehörige in Hamburg, in der es ausschließlich um die Krankheit ging. Von ärztlicher und therapeutischer Seite fühlten wir uns jedoch gut unterstützt. Wichtiger wäre es mir gewesen, mich mit anderen Eltern auszutauschen.
So mussten wir unseren Weg alleine finden und ich fand mich fast jeden Tag in Gedanken-Karussellen wieder. Irgendwann beschlossen wir, die Schule zu wechseln und es an einer Waldorfschule zu versuchen. Dort ging es unserer unserem Sohn besser.  Bald jedoch erkannten wir, dass außer dem Tourette-Syndrom noch ein anderes Thema hinzugekommen war. Unser Sohn war nämlich nicht immer unser Sohn, sondern ursprünglich als Mädchen geboren. Das war für uns vielleicht die größte Herausforderung, nach 18 Jahren mit einer Tochter nun auf einmal von „Levi“ und „ihm“ zu sprechen. Auf jeden Fall eine, die zu allem anderen noch obendrauf kam.
Nach Jahren in stationären Einrichtungen und vielen Therapien, lebt Levi nun in einer ambulant betreuten WG in Hamburg. Er fühlt sich dort wohl und ich bin stolz darauf, wie er mit seiner Krankheit umzugehen gelernt hat, seinen Weg geht und sogar angefangen hat, zu studieren. Auch eine Autismus-Diagnostik – die durch das Tourette-Syndrom und die Gender-Thematik lange nicht im Vordergrund, aber eigentlich immer schon im Raum stand – nimmt er nun selbst in die Hand. 
Nach Levis Auszug habe ich mir erstmal eine Auszeit gegönnt – ein Jahr unbezahlten Urlaub von meinem Job, um mich neu zu orientieren. Wie es der Zufall wollte, habe ich in einen Artikel in der Brigitte über Gail McCutcheon und ihren Verein Mein Herz lacht gelesen. Ich habe sie sofort angerufen und wir haben lange gesprochen. Und danach stand für mich fest: Ich möchte mich ehrenamtlich engagieren. Denn ihre Elterngruppen waren genau das, was ich damals gebraucht hätte.
Seitdem bin ich Gruppenleiterin einer Mein-Herz-lacht-Gruppe in Lüneburg geworden und diese Aufgabe erfüllt mich sehr. Obwohl wir mit Corona einen sehr ungünstigen Start hatten, treffen wir uns mittlerweile jeden Monat und schauen, was wir gerade brauchen. Ich gebe meine Erfahrungen weiter, halte die Gruppe zusammen und organisiere Abende mit Expert:innen oder gemeinsame Unternehmungen.
Meine Sicht auf unser Leben hat sich mittlerweile geändert: Von „Wir sind nicht richtig“ hin zu „Das Leben ist bunt und vielfältig, und wir sind eine Bereicherung für andere“. Die Aufgabe als Gruppenleiterin gibt mir viel zurück und hilft mir, unseren schwierigen Lebensweg in etwas Positives zu verwandeln. Und nach all der Zeit auch etwas für mich zu tun. Etwas, das mir einen tieferen Sinn gibt. Ein Ehrenamt ist dafür genau das Richtige. Vielleicht ja auch für dich?