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Endlich selbstbestimmt leben – ein eigenes Pflegeteam für Jonas und Felix

Wie ein Vater der Chef eines eigenen Pflegeteams für seine beiden schwerstmehrfachbehinderten Söhne wurde

Unser Sohn Jonas kam vier Wochen zu früh auf die Welt. Anfangs dachten wir noch, er hätte nur Anpassungsschwierigkeiten, aber sonst sei alles in Ordnung. Doch dann fingen die Schwierigkeiten an. Auf einmal verschrieb uns der Kinderarzt bei der U4-Untersuchung Krankengymnastik und hatte ohne unser Wissen die Kästchen „Verdacht auf Blindheit“ und „zerebrale Bewegungsstörung“ angekreuzt. Als wir es bemerkten, kam die Panik hoch. Wir wussten überhaupt nicht, was „zerebrale Bewegungsstörung“ überhaupt bedeuten sollte. Bei weiteren Untersuchungen in der Klinik wurde dann bei Jonas eine Kleinhirn-Fehlbildung festgestellt. Das Kleinhirn ist für feinmotorische Bewegungen zuständig, also für alles, was mit Koordination zu tun hat. Anfangs dachte ich noch, das würde bedeuten, dass Jonas vielleicht nicht würde Fahrrad fahren können. Was es tatsächlich hieß, haben wir erst viel später verstanden. Nämlich als wir die genaue Diagnose erhielten und uns damit auseinandersetzten.

Wir erfuhren, dass Kinder mit seiner Krankheit weder sitzen, noch laufen, greifen, allein essen, trinken oder sprechen konnten. Einige waren bereits im Vorschulalter verstorben. Als wir das lasen, waren wir wie vor den Kopf gestoßen und am Boden zerstört. Doch wir hatten noch die vage Hoffnung, dass es bei Jonas nicht so schlimm sein könnte, weil er anfangs einige Fortschritte machte und sich gut entwickelte. Doch bei einem weiteren Gespräch in der Klinik, öffnete uns ein Arzt die Augen. Ich bin ihm heute noch dankbar dafür, dass er uns reinen Wein eingeschenkt hat. Denn dieses Gespräch war der Wendepunkt, der meine Lebenseinstellung für immer verändert hat.

Zu diesem Zeitpunkt war Jonas etwa 16 Monate alt. Ich weiß noch, wie der Arzt uns gegenübersaß und uns ernst anschaute. Dann sagte er diesen Satz: „Ich bin mir mit der Diagnose hundertprozentig sicher. Ihr Sohn wird nie ein eigenständiges Leben führen können.“ Wumms, das saß. Doch er sprach weiter und erzählte uns die Metapher vom Bilderrahmen. Jedes Kind hätte einen gewissen Entwicklungsrahmen vorgegeben, der von verschiedenen Faktoren abhänge. Wo jemand geboren ist, in welchem Jahrhundert, welche finanziellen Ressourcen oder sozialen Status die Familie hat oder eben auch welche genetischen Anlagen vorhanden sind. „Der Rahmen Ihres Sohnes ist viel kleiner als der eines gesunden Kindes, aber er ist nicht Null. Jonas wird sich entwickeln können, und ich fände es schön, wenn Sie ihm im Rahmen seiner Entwicklungsmöglichkeiten ein gutes Leben bieten können.“

Natürlich konnten wir das nicht von heute auf morgen verarbeiten, sondern sind erst einmal in den Verdrängungsmodus gegangen. Wir haben einfach weitergemacht und es gab viele Tiefpunkte. Besonders schlimm war das Unverständnis, dem wir immer wieder begegnet sind: Wenn ich gehört habe, wie sich andere Eltern darüber aufregten, dass ihr Kleinkind mit matschigen Schuhen über den Teppich gelaufen war, dachte ich nur: „Ich würde mir nichts sehnlicher wünschen, als dass mein Sohn mit matschigen Schuhen über unseren Teppich läuft und ich würde ihn noch fünfmal darüber laufen lassen.“ Die Bewältigung der neuen Situation war ein langer Prozess. Aber wir haben uns nicht mehr auf etwas konzentriert, was wir sowieso nicht ändern konnten. Wir wollten nichts Reparieren, sondern unsere Kraft auf das konzentrieren, was wir verändern konnten. Nämlich für eine gute Lebensqualität der ganzen Familie sorgen. Das war unsere neue Perspektive.

In der Trauerbewältigung sagt man: Erst muss der Kopf es verstehen, aber dann muss es auch noch dein Herz begreifen. So ging es uns auch. Aber als wir die Situation akzeptiert hatten, blickten wir nicht mehr zurück, sondern nur noch nach vorne. Etwas Wunderbares stand bevor: Die Geburt unseres zweiten Sohnes. Bei Felix schien alles in Ordnung zu sein. Er verhielt sich komplett anders als Jonas, war in allen Untersuchungen unauffällig und entwickelte sich gut. Wir schöpften neue Hoffnung und dachten, Jonas hätte ein gesundes Geschwisterkind bekommen. Doch nach etwa fünf Monaten bekam auch Felix Schwierigkeiten. Alarmiert ließen wir ihn untersuchen und erhielten dieselbe Diagnose wie für Jonas. Das war ein Moment des kompletten Absturzes. Wie sollten wir zwei schwerstmehrfach behinderte Kinder versorgen, bei denen jederzeit eine lebensbedrohliche Situation eintreten konnte und dazu noch arbeiten gehen?

Verzweifelt fuhren wir für eine Woche ins Kinderhospiz. Wir waren beeindruckt von der liebevollen Art, mit der die Therapeut:innen und Pflegekräfte dort mit Jonas und Felix umgingen und fühlten uns sehr wohl. Doch am Ende nahm uns die Leiterin zur Seite: „Für Ihren Alltag müssen Sie sich Hilfe holen. Schon unser Personal kommt an seine Belastungsgrenzen, alleine können Sie das nicht schaffen.“, sagte sie uns. Das war unser zweiter Wendepunkt. Denn als wir nach Hause zurückkamen, besorgten wir als Erstes einen Pflegedienst, der die Nachtwachen übernahm. So bekamen wir unter der Woche wieder etwas Schlaf. Auch im Kindergarten lief es gut, weil beide in derselben Einrichtung waren und eine Pflegekraft zwischen ihren Gruppen hin und her wechseln konnte. Doch als Jonas in die Schule kam, brauchten wir eine zusätzliche Unterstützung. Allerdings herrschte schon damals, 2012, Pflegenotstand und wir fanden keinen Dienst, der die zusätzlichen Stunden leisten konnte. Also beschlossen wir, die Pflege selbst zu organisieren. Und das war die beste Entscheidung, die wir jemals für Jonas und Felix getroffen haben.

Ich hatte gelesen, dass Versicherte statt der Sachleistung durch den Pflegedienst auch eine Geldleistung (das sogenannte Persönliche Budget) wählen können, und Pflegekräfte im Arbeitgebermodell direkt in der Familie anstellen können. Als Arbeitgeber mussten wir dann einen Dienstplan erstellen, die Stunden dokumentieren, Gehälter auszahlen und die Personalführung übernehmen. Dafür hatten wir aber bei den Gestaltungsmöglichkeiten freie Hand. So entschieden wir uns für ein interdisziplinäres Team, wie wir es im Kinderhospiz kennengelernt hatten. Denn es war uns wichtig, dass unsere Kinder nicht einfach eine Pflege nach Schema F bekamen. So ist es zum Beispiel an manchen Tagen sinnvoll, mit dem Kind zu inhalieren und Atemtherapie zu machen, an anderen ist ein Waldspaziergang auf holprigen Wegen mindestens genauso schleimlösend. Unsere Angestellten waren auch viel zufriedener mit ihren Arbeitszeiten und Aufgaben und die meisten sind schon sehr lange bei uns. Vor allem aber haben wir so eine verlässliche Versorgung und sind nicht von einem Pflegedienst abhängig. Seitdem leistet unser „Team Felix und Jonas“ jeden Monat knapp 1.000 Stunden Pflege bei uns. Das hat Jonas und Felix ermöglicht, was wir uns immer gewünscht haben: Viel gemeinsam zu unternehmen, Ausflüge zu machen und uns so viel Lebensfreude wie möglich in unseren Alltag zu holen.

Mittlerweile sind meine Jungs in der Berufsschule angekommen und es ist schön zu sehen, wie sie sich entwickelt haben. Und ich habe beschlossen, mein Wissen und meine Erfahrung an andere Eltern weiterzugeben. Seitdem berate ich Eltern dabei, wie sie unser Modell auf ihre Familie übertragen können. Denn ich bin davon überzeugt, dass Jonas und Felix ohne unser Pflegeteam nicht mehr zuhause leben könnten.