Warum es sich lohnt, um Hilfe zu bitten
Wie Daniela trotz aller Widrigkeiten Mut und Hoffnung findet.
Vor sieben Jahren hatte ich das einschneidendste Erlebnis meines Lebens: Wegen einer Schwangerschaftsvergiftung kam unser Sohn Leo bereits in der 27. Woche als Frühchen auf die Welt. Er wog nur 750 Gramm, musste sofort auf die Intensivstation und war von lauter Kabeln und medizinischen Apparaten umgeben. Ihn so zu sehen, hat mir einen Stich in der Brust versetzt. Von da an begann unsere emotionale Achterbahnfahrt. Es war ein ständiges Auf und Ab. Mal hieß es, es sei alles in Ordnung und nur zwei Stunden später kämpften Ärzt:innen um sein Leben. Leo hat den Pflegegrad 5 von 5. Obwohl er sehr gut hören kann und genau weiß, was er möchte, kann er nicht laufen, nicht sitzen, nicht gut sehen und nicht sprechen. Für Außenstehende ist es schwer, mit ihm zu kommunizieren. Ich bin für ihn so etwas wie sein Exoskelett geworden und unterstütze ihn in allem, was er möchte. Vor einem Jahr hat uns ein weiterer Schicksalsschlag ereilt. Leo hatte einen schweren epileptischen Anfall, der seine rechte Gehirnhälfte schädigte. Seitdem kann er die linke Körperseite nicht mehr benutzen und nicht mehr robben. Aber Leo ist willensstark. Er kämpft weiter, auch wenn er nicht mehr so mobil ist.
Für uns als Familie fühlt es sich an, als ob wir täglich kämpfen müssen. Kaum haben wir etwas geschafft, steht eine neue Herausforderung an. Dann draußen vor dem Fenster gesunde Kinder spielen zu sehen, macht es nicht leichter. Ich glaube, ich werde mein ganzes Leben daran arbeiten müssen, unsere Situation anzunehmen. Manchmal fällt es mir leichter, dann wieder schwerer. Es gibt Momente, da fühle ich mich wie in einem tiefen Loch. Deshalb bin ich auch in Therapie, um über meine Gefühle und Sorgen zu sprechen. Eines habe ich dabei schon gelernt: Vieles wird leichter, wenn ich all unseren Herausforderungen mit einem Lächeln begegnen.
Eine Zeitlang hatte ich meinen Optimismus verloren. Ich war vor der Geburt immer ein lebensfroher Mensch gewesen, doch dann gab es viele dunkle Momente. Bis wir das erste Mal mit Leo in den Urlaub gefahren sind. Dort gab es einen Heustadel mit einem großen Trampolin und an einem Nachmittag legte ich Leo dort hinein. Wir waren erst ganz alleine, doch dann kamen andere Kinder und trauten sich nicht so recht zu uns herein. Bald saßen sie alle um mich herum und stellten Fragen. Und so begann ich von Leo zu erzählen und dass er nicht so viel Glück in seinem Leben gehabt hatte. Irgendwann sagte ein Mädchen, dass sie auch ein behindertes Geschwisterkind hat. Und am Ende waren die Kinder mit Leo auf dem Trampolin, aber sie sind sehr behutsam mit ihm umgegangen. Das war so ein schöner Moment zu sehen, wie sich unsere Welten miteinander verbunden haben.
So einen Gänsehaut-Moment habe ich eines abends vor einer Shisha-Bar erlebt. Damit hätte ich niemals gerechnet, aber diesen Abend werde ich nie mehr vergessen. Ich kam mit Leo von seiner Therapie und hatte unser Auto auf dem Parkplatz vor der Shisha-Bar angestellt. Erschöpft und müde setzte ich Leo ins Auto und sah den schweren Rolli vor mir stehen. Auf einmal sah ich zwei junge Männer aus der Shisha-Bar kommen. Bestimmt ganz harte Kerle, dachte ich bei mir. Doch ich war müde, nahm meinen Mut zusammen und fragte: „Könnt ihr mir bitte kurz helfen?“ Ohne auch nur einen Moment zu zögern, kamen sie zu mir hinüber. Einer hievte den Rolli in den Kofferraum, der andere sprach ganz selbstverständlich mit Leo und kümmerte sich um ihn. Als alles erledigt war, sagten sie: „Wenn du jemals wieder Hilfe brauchst, klopf einfach an die Tür der Shisha-Bar.“ Das war ein magischer Moment für mich. Es können wunderbare Dinge geschehen, wenn wir unsere eigenen Vorurteile beiseitelassen und andere um Hilfe bitten.
Seit ich offen und mit einem Lächeln durch die Welt gehe, hat sich für uns so viel verändert. Klar gibt es auch mal Menschen, die Berührungsängste haben. Aber das ist selten. Fast immer bekomme ich ein Lächeln zurück. Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das besagt, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Meine Eltern gibt es nicht mehr und so haben wir uns andere Menschen in unser Leben geholt, die uns unterstützen. So wie unsere Goga, Leos Kinderkrankenschwester. Sie ist ein wahrer Engel und ihre Hilfe ist unbezahlbar. Obwohl wir umgezogen sind, kommt sie trotz der Entfernung noch immer einmal pro Woche zu uns. Ich glaube das hängt damit zusammen, wie wir auf andere Menschen zugehen. Offen und ehrlich oder verschlossen und in uns gekehrt. Diese Erfahrung haben wir auch im Kindergästehaus gemacht. Dort hatten wie Leo eine Woche untergebracht und als wir ihn wieder abholten, fragte uns eine Betreuerin: „Kann ich regelmäßig zu euch kommen? Ich finde euch und Leo einfach so sympathisch!“ Seitdem unterstützt sie uns und kümmert sich sehr liebevoll um Leo.
Alles hängt davon ab, wie wir auf andere zugehen. Auch auf die Krankenkasse. Wie oft haben wir dort um ein Hilfsmittel kämpfen müssen. Und es ist frustrierend, sich nicht verstanden zu fühlen oder immer wieder dieselben Begründungen vorbringen zu müssen. Aber als Leo dann seinen Rollstuhl genehmigt bekommen hat, haben wir ein Foto von ihm im Rollstuhl dorthin geschickt und uns bedankt. Wir wollten ihnen zeigen, was für einen positiven Unterschied sie in unserem Leben gemacht haben. Es ist wichtig, sichtbar zu werden. Denn nur, wenn andere Menschen sehen, wie unser Alltag wirklich aussieht, kann das Verständnis wachsen.
Ich weiß selbst, dass es nicht immer einfach ist. Auch ich habe Hochs und Tiefs. Aber ich weiß inzwischen, dass ich so viel mehr erreiche, wenn ich darauf achte, wie ich anderen Menschen begegne. Das hat mir eine andere Mutter noch einmal vor Augen geführt. Sie war genau wie ich mit ihrem Sohn im Krankenhaus. Er war schon ein Teenager und saß genau wie Leo im Rollstuhl. Also schoben wir beide die Rollstühle zum Aufzug. Dort warteten bereits einige Leute und als der Aufzug kam, stiegen sie ein – obwohl sie sicherlich auch die Treppe hätten nehmen können. Die Frau vor mir, machte keinerlei Anstalten, in den Aufzug zu steigen. Also fragte ich sie. „Wollen Sie den Aufzug nehmen?“. Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Nein, ich nehme die Treppe!“ Ich war ganz irritiert und schob meinen kleineren Rolli an ihr vorbei und in den Aufzug. Als die Türen zugegangen waren, herrschte Schweigen. Dann sagte eine Frau: „Was war denn das für eine Reaktion?“ Wahrscheinlich hatte diese Mutter schon so viele Kämpfe geführt und komische Kommentare gehört, dass ihr gar nicht in den Sinn kam, dass ich ihr nichts Böses wollte. Wie schade! Denn die Situation hätte auch ganz anders ausgehen können – wenn wir bereit sind, kleine Brücken zu bauen.
Obwohl ich das jeden Tag versuche, gab es doch eine Sache, die mir innerlich lange nachhing – meine abgebrochene Schwangerschaft. Nach Leos Frühgeburt fühlte ich mich unvollständig und jedes Mal, wenn ich eine schwangere Frau sah, spürte ich Neid und Traurigkeit in mir aufkommen. Ich hatte nie Zeit gehabt, seine Bewegungen in meinem Bauch zu spüren und das hat eine tiefe Narbe in meinem Herzen hinterlassen. Wie sehr wünschte ich mir, die Schwangerschaft noch einmal ganz anders zu erleben. So standen mein Partner und ich vor einer schwierigen Entscheidung: Sollten wir noch ein zweites Kind bekommen? Nachdem wir medizinisch abgeklärt hatten, dass Leos Zustand nicht genetisch bedingt war - zumindest soweit das möglich war – beschlossen wir, das Risiko einzugehen. Es wurde für mich das schönste Geschenk meines Lebens. Die Schwangerschaft verlief unkompliziert und wir haben eine gesunde Tochter bekommen. Ich konnte mit Rosalie jeden einzelnen Moment genießen und wusste ihn umso mehr zu schätzen. Rosalie hat so viel Licht und Freude in unser Leben gebracht. Das soll nicht heißen, dass Leo nicht unser Sonnenschein ist. Aber er hat ganz andere Themen und Herausforderungen. Seit Rosalie da ist, ist nicht mehr alles in unserem Leben auf Krankheiten fixiert. Vor allem darf Leo nun auch einfach Kind sein und die beiden sind sehr liebevoll zusammen. Es hat einfach ganz viel gut gemacht in meiner Seele und ich bin sehr dankbar dafür.
Mit zwei Kindern ist manches komplizierter geworden. Mir ist es wichtig, dass Rosalie nicht im Schatten von Leos Bedürfnissen aufwächst. Aber meine Eltern gibt es nicht mehr und so fehlt uns eine Seite der Großelternschaft, die wir ganz dringend brauchen. So habe ich eines Tages vor der Haustür eine Gruppe älterer Damen angesprochen, die gerade mit ihren Hunden unterwegs war. „Kennen Sie jemanden, dessen Enkelkinder weit weg wohnen und der Lust hätte, eine Ersatzoma zu sein? Eine Oma im Herzen?“ Sofort antwortete eine der Damen: „Ja, ich. Das könnte ich mir vorstellen, ich habe Zeit.“ Seitdem ist Oma Henni ein fester Bestandteil in unserem Leben und unternimmt einmal pro Woche etwas mit Rosalie.
Nicht jeder möchte einfach fremde Menschen auf der Straße ansprechen. Doch es gibt in vielen Städten den familienentlastenden Dienst. Ich weiß nicht, warum ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Aber seit wir ihn nutzen, haben wir einen Samstag im Monat nur für uns. Diese Unterstützung ist Gold wert. Genauso gibt es oft einen Leihoma-Service in den Städten, auch wenn einige durch Corona eingeschlafen sind. So habe ich letztlich auch „Mein Herz lacht“ gefunden. Damals rief ich bei der Stadt an und erkundigte mich nach einer Selbsthilfegruppe für Eltern. Sie notierten meinen Namen und ich rechnete nicht mit einem Rückruf. Doch kurze Zeit später, kam doch einer. Denn zur selben Zeit hatte Gail McCutcheon den Verein gegründet und suchte Mitglieder. Ich bin sofort eingetreten. Für mich ist „Mein Herz lacht“ wie ein starker Rücken, der mich stützt. merke immer wieder, wie wertvoll es ist, sich mit Eltern auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen haben wie wir. Es ist immer jemand da, wenn man Unterstützung braucht.
Das Wichtigste ist, dass wir uns nicht in Gedankenspiralen fangen lassen. Manchmal passiert mir das, wenn ich an die Zukunft denke. Umso dankbarer bin ich für andere Perspektiven – vor allem die von meinem Mann. Er fängt mich mit seiner ruhigen Art auf und bringt mich wieder ins Gleichgewicht. Es ist so schön, sich mit ihm auszutauschen und zu wissen, dass er mich auffängt. Deshalb an dieser Stelle ein großes Dankeschön an meinen Mann. Wir reden viel miteinander, denn Kommunikation macht oft den Unterschied. Er hat immer die richtigen Worte, um mich zu beruhigen, und das gibt mir das Vertrauen, dass wir immer eine Lösung finden.
Trotzdem fühlen mein Mann und ich uns oft erschöpft. Umso wichtiger ist es uns, dass jeder von uns Zeit für sich selbst hat, um die Akkus wieder aufzuladen. Ich bin ein kreativer Mensch und mache gern Handlettering. Eine schöne Karte oder einfach ein Wort zu gestalten hilft mir, mich zu entspannen. Bei meinem Mann ist es der Sport. Er geht Golfen, Mountainbiken oder Kitesurfen. Doch in diesem Jahr haben wir etwas Neues eingeführt. Alles begann mit einem Wellness-Wochenendgeschenk von meinem Mann zu meinem Geburtstag. Diese drei Tage alleine waren wunderbar, aber ich merkte, dass ich erst am Ende dieser Zeit wirklich abschalten konnte. Deshalb haben wir beschlossen, uns gegenseitig jeweils eine Woche Urlaub ganz allein zu gönnen. Ich verbrachte meine Woche alleine in den Bergen, wo ich die Freiheit hatte, zu malen, zu wandern und die Natur zu genießen, ohne ständig auf die Uhr schauen zu müssen. Es war auch ein Luxus, einfach alleine im Restaurant zu essen, während sich alle anderen um ihre Kinder kümmern mussten. Mein Mann nutzte seine Auszeit auf einem Boot. Anschließend war jeder von uns so erholt, dass wir voller Energie zurückgekehrt sind. Natürlich machen wir auch gemeinsam Urlaub, aber diese Auszeiten wollen wir von nun an jedes Jahr machen. Das alles funktioniert natürlich nur mit guter Organisation, gegenseitigem Vertrauen und Unterstützung von außen. Es hilft, dass wir beide im Homeoffice arbeiten können und unsere Arbeitszeiten flexibel gestalten können. Wir haben wirklich Glück, so verständnisvolle Arbeitgeber zu haben.
Im Alltag sind es die kleinen Momente, die einen Unterschied machen. Ich versuche, sie zu nutzen, um mich zu entspannen. Bei der Einschlafbegleitung von Leo, schalte ich mir oft eine Meditation oder Hörbuch ein. So kann ich neben ihm liegen und trotzdem etwas für mich tun. Ich habe auch begonnen, kleine Freuden bewusster wahrzunehmen. Ein krabbelnder Marienkäfer, eine blühende Blume oder der Gesang eines Vogels - solche Momente bringen Licht in meinen Tag und ich reflektiere sie abends und schreibe sie in mein 6-Minuten-Tagebuch. Dieses Ritual hat sich auf die ganze Familie übertragen. Jeden Abend, bevor wir schlafen gehen, teilen wir uns die Höhepunkte unseres Tages mit und gehen mit diesen positiven Gedanken ins Bett.
Natürlich wünsche mir mehr Inklusion, aber ich habe auch verstanden, dass wir nicht auf ein großes Wunder hoffen dürfen. Sondern, dass wir selbst dazu beitragen können, anderen unsere Welt zu zeigen. Schließlich können wir voneinander lernen. Die Erzieherinnen in Rosalies Krippe sind so begeistert, wie achtsam und fürsorglich sie ist. Sie ist immer da, um zu vermitteln, wenn es Streit gibt. All das hat sie gelernt, weil sie mit Leo gemeinsam aufwächst. Wenn wir von Klein auf lernen, dass manche Menschen anders sind oder Hilfe brauchen, können wir zu empathischeren Erwachsenen werden. Und das kommt am Ende allen zugute. Deshalb sollten wir offen auf andere zugehen und ihnen mit einem Lächeln begegnen.